Warum ist Rudolf Steiner ein g r o ß e r Sozialreformer?

„Mit dem Februar 1900 tritt Rudolf Steiner in sein 40. Lebensjahr. Eine dunkle Zeit ist für ihn abgelaufen – nein, ist für die ganze Menschheit abgelaufen.“

So endete der Bericht in der Weihnachtsnummer des „Schau-Dich-um“ 2017, in dem wir auf die Jugend des großen Sozialreformers Rudolf Steiner blickten.

Das 5000jährige finstere Zeitalter, das „Kali Yuga“, wie der Orient es nennt, war mit dem Jahre 1899 beendet. Es ist bemerkenswert, dass dieser gewaltige Umschwung in den Zeitaltern auch in seinem persönlichem Leben deutlich bemerkbar ist.

Seit einigen Jahren lebt Rudolf Steiner ja in Berlin. Überraschend wird er von dem Grafen und der Gräfin Brockdorff aufgefordert, in ihrerTheosophischen Bibliothek einen Vortrag zu halten (22.09.1900). Dabei bemerkt er bei den Zuhörern eine Offenheit für spirituelle Gedanken. Bei einem zweiten Vortrag am 29. September 1900 über Goethes geheime Offenbarung „wurde ich in Anknüpfung an das „Märchen“ ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können.“

Damit ist ein Damm gebrochen. Die Flut einer wirklich ganz neuen „Geisteswissenschaft“ wird sich in das folgende Vierteljahrhundert ergießen, fruchtbar machend nicht nur den Boden des Gedankenlebens, sondern auch einer großen Anzahl praktischer Berufe. Beispiele dafür sind heute weltweit verbreitet.

Während Rudolf Steiner als Redner in der Öffentlichkeit ‚ganz oben‘ angekommen ist – am 17. Juni 1900 hält er den Festvortrag zum 500jährigen Gutenberg-Jubiläum in einem Berliner Zirkuszelt vor 7000 deutschen Buchdruckern und Schriftgießern – beginnt nun im allerkleinsten Zuhörerkreis der ‚Theosophen‘ seine eigentliche Lebensleistung und Lebensaufgabe.

Daneben geht zunächst weiter seine Tätigkeit an der Arbeiterbildungsschule, an der er mit großer Liebe hängt. Am 12. Januar 1902 eröffnet er mit Rosa Luxemburg zusammen das Arbeitsjahr. („eine herzerquickende Ver-sammlung.“) Am 17. Januar wird er auf Bitten des Grafen und der Gräfin Mitglied der Theosophischen Gesellschaft. Bald wird er gedrängt, den Vorsitz der Gruppe, bald sogar den der nun neu zu gründenden deutschen ‚Sektion‘ zu übernehmen. Er sagt erst zu, als Marie von Sievers, eine junge, hochbegabte mehrsprachige Deutschbaltin aus St. Petersburg, ihre Mitarbeit zugesagt hat.

Um die 130 deutschen Mitglieder, denen allen gemeinsam ist, untereinander völlig uneins zu sein, zusammenzuführen, gründet er die Zeitschrift „Lucifer“, deren einziger Autor er bleibt. Wenn diese Erfolg hat, wird er endlich die Resonanz in den Menschen haben, die sich mit ganzem Herzen der drängenden ’sozialen Frage‘ zuwenden. Und wirklich, im Oktober 1905 erscheint in Lucifer „Theosophie und soziale Frage“ als Beginn einer geplanten ganzen Serie. Es kommt noch eine Fortsetzung; danach – – nichts mehr. Auch diese Lesergruppe ist noch nicht aufgewacht für die Not der Menschen.

Ihre Ohren und Herzen bleiben verschlossen.

Noch zwölf Jahre lang.

Ende 1904 ist eine Kerngruppe von 9 Menschen herangewachsen, die die Arbeit verantwortlich tragen können. Darunter ist auch Michael Bauer aus unserem Nachbarort Gössersdorf. Er ist als Mensch in aller Bescheidenheit so groß, dass heute ganze Schulen nach ihm benannnt werden, auch Zweige der Anthroposophischen Gesellschaft. Rudolf Steiner nahm ihn, der schon früh den Albrecht-Dürer-Zweig in Nürnberg gegründet und geleitet hatte, in den ersten Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft auf. Das war dann 1913.

1914 kommt der große Krieg. Nach drei Jahren sind die Völker am Ende ihrer Kräfte. 1917 entsteht eine neue Lage: die Februar-Revolution in Russland, der Kriegseintritt der USA am 6. April. In verzweifelter Situation – was soll aus Deutschland werden? – wendet sich Otto Graf Lerchenfeld an Rudolf Steiner. Ihm und kurz darauf auch dem Grafen Ludwig Polzer-Hoditz entwickelt Rudolf Steiner die Idee der Dreigliederung eines sozialen Organismus.

In zwei M e m o r a n d e n sollen diese rettenden Gedanken ‚rechtzeitig‘ dem Kabinettchef des Kaisers in Wien übergeben werden. Doch Graf Polzer ist besorgt. Wie soll er die brisanten Dokumente durch die kriegsbedingt verschärfte Zollkontrolle schmuggeln? Steiner rät ihm, die Blätter obenauf offen in den Koffer zu legen. Und da geschieht es: Der strenge Zöllner läßt den Koffer öffnen. Mit energischem Schwung seiner Hand kippt er die oberen Lagen in den Kofferdeckel, um sich sofort den verdächtigen Untiefen des Gepäckstücks zuzuwenden. Die Papiere bleiben unentdeckt. – Alles vergebens. Die Memoranden werden weder in Wien, noch in Berlin verstanden oder ernst genug genommen. Das Unglück nimmt seinen Lauf.

Was hätte es für Europa bedeutet, wenn die Anregungen Steiners durchgedrungen wären?

Der Krieg endet mit dem völligen Zusammenbruch der beiden Kaiserreiche,

für Deutschland am 9. November 1918. Aber auch nach der Unterzeichnung des „Friedensvertrages“ findet Deutschland im Inneren keinen Frieden.

Am 18. Januar 1919 hatte die ‚Friedenskonferenz`in Versailles in jenem Spiegelsaal begonnen, in dem das Deutsche Kaiserreich verkündet worden war. Schon eine Woche später suchten Emil Molt, Roman Boos, Hans Kühn Rudolf Steiner in Dornach auf, um zu beraten, was zu tun sei. Am 2. Februar überreicht er ihnen seinen „Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt“. Für Emil Molt ist dies die „Geburtsstunde der Dreigliederungsbewegung“.

Des weiteren schreibt Steiner eine ausführliche Widerlegung der von Feindesseite behaupteten „alleinigen Kriegsschuld“ Deutschlands. Wieviel

hängt davon ab, dass diese Lüge n i c h t den Friedensvertrag bestimmt!? Rechtzeitig ist die Broschüre in einer Auflage von 50.000 Ende Mai fertig gedruckt, um schlagartig verteilt zu werden. Trotz Steiners striktem Verbot

bedienen sich Anthroposophen vorab mit Exemplaren. Eines erreicht die Familie von Moltke. Die Witwe jedoch des damaligen Generalstabschef hat ihre eigenen Ratgeber.

Am 1. Juni erscheint bei Steiner ein General von Dommes, der behauptet, er könne beschwören, dass die Broschüre drei wesentliche Fehler enthalte.

Da Rudolf Steiner diese Falschaussage nicht sogleich widerlegen kann, muss die gesamte Auflage eingestampft werden. 50.000 Exemplare!

Am 28. Juni (am 5. Jahrestag der Schüsse von Sarajewo) besiegeln die deutschen Vertreter in Versailles die d e u t s c h e A l l e i n s c h u ld

am Kriege (Artikel 231) mit ihrer Unterschrift (und halten Hitler damit den Steigbügel).

Warum war es Rudolf Steiner so unendlich wichtig, Deutschland von dem Vorwurf der Alleinschuld zu entlasten?

Äußerlich gesehen hätte es der Argumentation der völkischen Revisionisten viel Wind aus den Segeln genommen; die Völker hätten leichter wieder aufeinander zugehen können, manche Härte wie die Ruhrbesetzung wäre unterblieben.

Innerlich aber sah Rudolf Steiner die gewaltige Aufgabe Deutschlands, im zwanzigsten Jahrhundert die in d e u t s c h e r Sprache so unendlich reich fließenden neuen Geisteserkenntnisse an die anderen Völker der Erde weiterzugeben. Die Kriegsschuldfrage aber sollte (sollte?) Deutschland zu jenem „Schurkenstaat“ abstempeln, mit dem man nichts zu tun haben will.

Rudolf Steiner bleibt noch einige Monate in der Schweiz, hält Drei-gliederungsvorträge und schreibt das Buch: „Die Kernpunkte der Sozialen

Frage“, das gleich in hoher Auflage gedruckt wird. Am 20. April 1919 trifft er in Stuttgart ein. Sofort beginnt eine überaus arbeitsreiche Zeit mit Vorträgen vor den Belegschaften großer Firmen: Robert Bosch, Daimler, Waldorf-Astoria, u.a. Den ganzen Sommer bis in den Herbst hinein füllt der Kampf um die Dreigliederung Rudolf Steiners Tage völlig aus. An 74 Orten entstehen Dreigliederungs-Arbeitsgruppen.

Am 3. Oktober weist Rudolf Steiner in Dornach darauf hin, dass es sich in Mitteleuropa beim Verständnis oder Nichtverständnis für die Dreigliederung um eine Frage von Leben oder Tod des Volkstums handeln würde.

Zu diesem Zeitpunkt war aber schon abzusehen, dass die so vielversprechend in Württemberg eingeleitete Volks- und Arbeiterbewegung für die Dreigliederung an den sich wieder etablierenden alten Strukturen von Parteifunktionären, Wirtschaftsbossen doch nicht durchsetzen würde.

Für diesmal nicht.

Was muss es für Rudolf Steiner bedeutet haben, nach der Weltkriegskatastrophe zu erleben, dass die alten, eingefahrenen Denkgeleise trotz aller durchgemachten Schmerzen nicht überwunden werden können, die Menschen keine neuartigen Gedanken aufzunehmen vermögen??

Nach so vielen Monaten fast übermenschlicher Anstrengungen, die Zuhörer (Fichte hätte gesagt:) „zum Verstehen zu zwingen“… Alles umsonst!

Würde er, müsste er nicht auf die nächste Weltkriegskatastrophe warten, dass die Menschen dann endlich aufwachen?? Aber wenn bis dahin kein neues Denken eingeübt ist – wie soll eine Katastrophe dann zum Besseren führen??

Wie viele Sozialreformer vor ihm, nach ihm hatte schon das restlose Scheitern ihrer Zukunftsvisionen in die Resignation getrieben!? Nicht so ihn!

Wir sprachen doch von dem g r o ß e n Sozialreformer Rudolf Steiner.

Während den ganzen Sommer und danach die täglichen und immer rüder werdenden Redeschlachten um die Einführung der Dreigliederung unvermindert weitertobten, eröffnet am 7. September 1919 in Stuttgart im Stadtgartensaal vor 1000 Teilnehmern die erste „Freie Waldorfschule“ ihre Tore. (Heute sind es über 1000 Waldorfschulen in der ganzen Welt.) Damit die Schüler hingeführt werden zu einem neuen, aufnahmefähigen, lebendigen Denken.

Im letzten Jahr war es genau hundert Jahre her, dass in dem „Epochenjahr“ 1917 die Idee der Dreigliederung erstmals durch Rudolf Steiner formuliert wurde. In zwei Jahren wird Rudolf Steiners ‚Waldorfpädagogik‘ ihr 100jähriges Bestehen feiern. Die Dreigliederung muss warten.

Im ‚Grundgesetz‘ der Bundesrepublik vom 23. Mai 1949 tauchen einzelne Punkte der Dreigliederung auf, eine Folge der durchgemachten Leiden von Diktatur und Weltkrieg II. Aber im Ost-Westkonflikt erweist sich, wie stark unsere Freiheiten wieder beschnitten wurden, „um die Freiheit zu verteidigen“. Dies ging bis 1983, als Michael Gorbatschow überraschend die Barrieren aufbrach. Deutschland verdankt ihm eigentlich die Wiedervereinigung. Eine große Friedenszeit schien anzubrechen.

Warum dann noch Dreigliederung?

Es waren nur noch Einzelkämpfer, die diese Idee durch den Rest des Jahrhunderts durchtrugen.

Heute, 2018, ist die Politik weitgehend ratlos gegenüber der Macht internationaler Konzerne, die ihre Politik brutal verfolgen. Ratlos gegenüber

den weltweiten Kriegsherden, die Millionen Menschen ihre Heimat rauben,

machtlos gegen das Großkapital, das der nationalen Finanzämter

spottet.

Gäbe es heute wieder eine Chance, dass die sanfte Gewalt der Logik, der Wahrheit, der Dreigliederung, Hilfe bringen könnte?

Eigentlich wäre es doch ganz einfach:

Man soll im Staate nur voneinander trennen den Rechtsbereich von dem Wirtschaftsleben, und das Wirtschaftsleben von dem Geistesleben, so dass sie sich nicht gegenseitig heillos vermischen. Drei Glieder, ein Staat.

Damals ab 20.Juni 1917 besprach Rudolf Steiner mit Graf Lerchenfeld die Grundzüge der Dreigliederung. Dieser berichet: „ Mehr als drei Wochen

tagtäglicher, stundenlanger Arbeit folgten dieser ersten Unterredung.

Wochen höchsten Erlebens, höchster Anspannung, intensivsten Lernens, Lernens, was in Wahrheit bedeutet Logik des Lebens, des Werdens und Vergehens, wie Logik hinübergreifen muss ins Künstlerische, soll sie vom wirklichen Leben nicht abgelehnt und zur Unlogik werden. Politik ist Kunst, nicht Wissenschaft allein, und wo sie nurmehr Wissenschaft ist, da erkrankt der soziale Organismus, weil er behandelt wird wie ein Totes.“

Nach der ersten Unterredung hatte Lerchenfeld noch in seinem Tagebuch

notiert: „… War heute drei Stunden bei Dr. Steiner in der Motzstrasse. Vor

mir steht die Lösung von allem. Weiß, dass es keine andere geben kann.“

Wie lange ist es vom Glauben zum Verstehen?! Und wie lange dann bis zur praktischen Ausführung?!!

Rudolf Steiner hat von sich selbst gesagt, dass er dreißig (!) Jahre mit der Idee umgegangen sei, bevor er sie aussprach.

Der wirklich große Sozialreformer lässt sich von einer Niederlage nicht entmutigen. Aber das Schicksal lässt ihn auch nicht im Stich.

Woher kommen plötzlich all die ernsthaften, begeisterten jungen Männer, die zu Rudolf Steiner drängen und die ehrwürdig alternde Anthroposophische Gesellschaft überschwemmen? Ganz einfach: Aus dem Krieg!

Ihre unbeschwerte Jugend hat ihnen der Krieg geraubt; ihre Studienpläne zertrümmert, ihre Gesundheit gefordert (und bei wie vielen von ihnen das Leben gekostet!?)

Mit Heißhunger nehmen sie die neuen Lehren auf. Aber dann – – setzen sie sie sofort in die Praxis um, ob verstanden oder nicht. Und Rudolf Steiner, geliebt von ihnen, liebt auch sie. Mit Entsetzen bemerken die ehrwürdig im Studium ergrauten Mitglieder diese Aktivitäten. Aber Rudolf Steiner hat für die Jungen immer neue Aufgaben, ja sogar neue Berufe. Und Berufe werden mit neuem Sinn erfüllt. Der Dornacher Hügel quillt über von pulsierendem Leben. Die früh Ankommenden können noch das im Weltkrieg erbaute Erste Goetheanum bestaunen, ja bei der Fertigstellung mithelfen. Maler, Bildhauer, Plastiker, Glasschleifer erhalten neue Anregungen. Aber auch die Wissenschaft und die Theologen erhalten neue Aufgaben für ihr ganzes Leben.

Doch die Gegnerschaft gegen Steiner und die Anthroposophen wird immer schärfer, wird zur Feindschaft, bis Silvester 1922 der gewaltige Holzbau des Goetheanum der Brandstiftung zum Opfer fällt.

Neun Jahre Arbeit mit Hunderten von Helfern aus 17 Nationen, Millionen von Spendengeldern, alles vernichtet in einer Nacht. Die Anthroposophische Gesellschaft ist schwer getroffen. Sie droht auseinanderzufallen, ihres Zentrums beraubt. Werden die Feinde jetzt Ruhe geben? Aber nein, die Hetze geht weiter, noch radikaler gegen Rudolf Steiner persönlich. Die großen Vortragsreisen in Deutschland müssen nach Krawallen abgesagt werden, aus Angst um Rudolf Steiners Leben. Und er selbst? Er nimmt den Geisteskampf auf. Seine Waffen sind die christlichen, im Sinne Michaels. Zwei Monate vor seinem 63. Geburtstag führt er, mit einer gewaltigen Kraftanstrengung, die Anthroposophen aus aller Welt zusammen mit der legendären „Weihnachtstagung“.

Aber das geht schon über unser Anfangsthema hinaus. Über den kleinen Jungen, der so sozial zum Manne heranwuchs, entstand uns die Frage nach dem sozialen Reformer. Ein Reformer ist immer derjenige, der eine unpassend gewordene Form „re-formiert“, ihr eine neue passende Form verleiht. Was Rudolf Steiner beginnend bei der Weihnachstagung für den Rest seines Lebens, 1 ¼ Jahre, bis zum 30. März 1925, unternimmt, ist nicht mehr Reform, sondern Menschenschöpfung im Sozialen. Er wird ein Sozialbildner.

Aber das ist eine extra Untersuchung wert.